Lange habe ich gesucht und endlich gefunden: Die ruhige, altersfreundliche Zwei-Zimmerwohnung. Mein Umzug fiel mitten in die SARS-CoV-2 Pandemie. Der Neuanfang kombiniert mit der angeordneten Schliessung des öffentlichen Lebens, hat mir erstmals nach 70 Lebensjahren das Grundvertrauen unter den Füssen weggezogen. Nach meinem Bauchgefühl wurden die Zwangsmassnahmen, der westlichen Regierungen zu stark ans chinesische Vorgehen angelehnt. Freiheit wurde und wird der Sicherheit geopfert. Die Mehrheit mag in der Krise eine starke Führung akzeptieren. Wer zweifelt, ist blitzschnell eine "Virenschleuder", auch wenn er alle behördlichen Vorschriften einhält. Was wird aus einer Gesellschaft, in der jeder Mensch als Gefahr wahrgenommen wird? Wie wird die Welt erst reagieren, wenn in Zukunft ein neues Virus auftaucht, das auch für gesunde Menschen viel lebensbedrohlicher sein könnte? Aber nun zuerst etwas darüber, woher mein Bauchgefühl kommt.
"Kaninchen im Heim verhungert - wie geht es den Kindern?" 1975 habe ich dort als Praktikant gearbeitet. Resultat dieser Presse-Schlagzeile: Kinder und Jugendlichen durften persönlich keine Kleintiere mehr halten. Die Szenen habe ich heute noch vor Augen, als sich ALLE Kinder SOFORT von ihren Lieblingen trennen mussten. Als Ersatz wurden Heimtiere angeschafft, und eine 50% Stelle mit Tierverantwortung sorgt ab sofort für das Tier-Wohl. Hautnah erfuhr ich in der Praxis, was eine "Totale Institution" ausmacht. Am Schluss meiner Berufsarbeit, war ich unter anderem, gesetzlicher Vertreter von nicht mehr urteilsfähigen Menschen. Bei meinen Besuchen im Pflegeheim überquerte ich mit der mir anvertrauten, alten, an Alzheimer erkrankten, Frau die Strasse zum nahe gelegenen Park. Sie genoss den Kinderspielplatz und war nach Stunden kaum wieder auf den kurzen Rückweg ins Pflegeheim zu bewegen. Weil ich nicht endlos Zeit hatte, begann ich sie alleine an ihrem Lieblingsplatz sitzen zu lassen und erledigte andere Verpflichtungen. Einen ganzen Sommer lang ging das gut. Nie verliess sie ihren Kinderbeobachtungsplatz. Einen Sommer später fehlte mir die Zeit für wöchentliche Besuche. Ich fragte die Heimleitung schriftlich an, ob die alte Frau ab und zu über die Strasse in den Park geführt werden könnte, um sie nach zwei bis drei Stunden beim Kinderspielplatz wieder abzuholen. Das Entsetzen über dieses hochriskante Anliegen der gesetzlichen Vertretung war grenzenlos. Obwohl ich nur versuchte, zu ermöglichen, was diese Persönlichkeit, bei Selbständigkeit auch tun würde. Exekutiven entscheiden, bei Ungewissheiten IMMER zugunsten von Sicherheit. In Heimen herrscht zurzeit Besuchs- und Ausgangsverbot. Trotzdem gibt's viele Infektionen. Das Personal lässt sich leider nicht einschliessen, ist systemrelevant, und dazu schlecht besoldet.
Das Virus SARS-CoV-2 tötet vulnerable Gruppen. Ein neues Adjektiv wird populär. Der statistische Altersmedian der Verstorbenen liegt bei 84 Jahren. Ein Durschnitt, in dem Sterben nicht unüblich ist. Ich denke nicht in erster Linie an wirtschaftliche Schäden. Sorgen bereiten mir, gesunde ältere Menschen über 65 Jahren, die nicht mehr gebraucht werden, die ihre Enkel nicht mehr sehen sollen, die für die Jungen nur eine Last sind, die durch die erzwungene Isolation krank werden und Lebenszeit verlieren! Woher nehmen die Mächtigen die Hoffnung, dass alte Menschen, die in einer kleinen Wohnung alleine leben müssen, gesund bleiben. Sie schauen den ganzen Tag fern und erstarren am inszenierten Schrecken. Die Losung "Bleiben Sie gesund. Alle, bitte" hätte mir besser gefallen. Aber zum Glück hat der Bundesrat die Einschliessung, der nicht systemrelevanten Bevölkerung nur angedroht, nicht aber umgesetzt.
Obwohl das Gesundheitswesen nicht zusammengebrochen ist, wird nur zögerlich gelockert. Der panische Drang ins Akutspital ist bei den Alten in der Schweiz wahrscheinlich nicht allzu gross. Was fehlt, sind Menschen, die andere Menschen nicht allein lassen, wenn es so weit ist. Sterben darf nicht sein und wenn, dann bitte nur in Institutionen. Ein sicheres Zeichen von Niedergang unserer westlichen Gesellschaften. Das Problem der Verbreitung von SARS-CoV-2 wird nach dem Prinzip der Hoffnung aufgeschoben. Wenn's lange dauert, wird das den Niedergang der Städte einleiten. Überall muss Abstand sein, und dieser Platz ist dort leider nicht vorhanden. Die Verdichtung zeigt erste Folgen. Wieso lässt man die Jungen nicht etwas näher zusammenrücken? Wieso glaubt der Bundesrat nicht an sein besonnenes Volk? Es ist genug Angst da, dass nicht alles, was erlaubt wird, sofort zu Massenaufläufen führen wird.
Was zählt im Leben? Die glücklichen Tage? Ein möglichst langes Leben? Wohlstand und Vergnügen? Mein Lebenszweck sind andere Menschen, die sich freuen, dass es mich gibt. Die Pandemie schränkt mich massiv ein, und nimmt mir einen grossen Teil meiner Lebensenergie. Wenn plötzlich Energie und Zuversicht fehlen und ich am neuen Wohnort keine nachbarschaftlichen Beziehungen finden kann, fühle ich mich alt und unnütz. Kein guter Start in meinen letzten Lebensabschnitt.